Die Möglichkeit im Wirklichen aufsuchen
Thomas Metscher erzählt uns über Kunst. Das ist etwas für Interessierte, für Liebhaber – könnte man meinen. Es verhält sich aber mitnichten so. Was der Autor als marxistischer Philologe und Philosoph zu sagen hat, richtet sich an alle fortschrittlich Bewegten auf diesem Planeten. An alle jedenfalls, die Welt erkennen und verändern wollen. Er präsentiert uns Kunst als geschichtlichen Entwurf; als einen schöpferischen Prozess in dem Wirklichkeit kontinuierlich angeeignet und dargestellt wird. Metschers Buch ist somit ein unumgänglicher Baustein, um sich als Marxist in heiklen Zeiten wie diesen zurecht zu finden. Es zeigt uns die innige Gemeinsamkeit von Ideologie und Wahrheit wie die schroffen Grenzen zwischen ihnen. Es geht der Kunst, so Metscher, um nichts weniger als um die „epistemische Durchdringung praktischer Weltverhältnisse“ (S.14). Das aber muss unbedingt leisten, wer eine andere, bessere Welt als diese möchte. Es gilt: „Die Möglichkeit im Wirklichen aufzusuchen, das Erkunden seiner Horizonte ist nach wie vor, einst und jetzt, die Aufgabe und die Leistung der großen Kunst.“ (S. 103)
Die Kunst handelt, so wird im Text expliziert, von einer ganz speziellen Art des Weltwissens: von der ästhetischen Erkenntnis. Es ist dies die Synthese von Ratio und Emotion, Gefühl und Vernunft, geschaffen von tätigen Menschen in einem kommunikativen Prozess. Das ergibt eine solide Basis für Erkenntnis. Nicht ohne Grund steht daher seit der Antike die Frage der Wahrheit thematisch im Mittelpunkt aller ästhetischen Theorien. Aber vor allem für die Gegenwart gilt: Das so Gewonnene hilft uns schließlich nicht nur zu sehen „was ist“, sondern ist auch unerlässlich für den Bau einer alternativen, besseren Gesellschaft. Metscher schlägt deshalb vor, den Marxismus künftig als aus der Trias von Wissenschaft, Philosophie (im Sinne von Theorie und Praxis, M.W.) und eben Kunst bestehend zu begreifen (S. 12); eine Implikation, die vor allem erkenntnistheoretische Konsequenzen hat. Wobei es wohl unerlässlich ist, diese drei ineinander verschränkten Elemente als Totalität zu sehen. Insbesondere eine scharfe Trennung von Wissenschaft und Philosophie wäre, scheint mir, nicht unbedingt zielführend.
Thomas Metscher sieht Kunst, weit weg von verklärender Abgehobenheit, fest verankert im materiellen Lebensprozess. An zentraler Stelle firmiert dabei Mimesis, die nachahmende Darstellung von Natur und Wirklichkeit, hier bezogen auf gesellschaftliches Leben und Handeln. Mit Brecht sieht er künstlerische Tätigkeit als die „Geschicklichkeit, Nachbildungen vom Zusammenleben der Menschen zu verfertigen, welche ein gewisses Fühlen Denken und Handeln der Menschen erzeugen können, das der Anblick oder die Erfahrung der abgebildeten Wirklichkeit nicht in gleicher Stärke und Art erzeugen“. (S.149) Oder wie es Georg Lukács ausdrückt: Einzig die Kunst schafft – mit Hilfe der Mimesis – ein objektiviertes Gegenbild zur wirklichen Welt, das sich selbst zu einer „Welt“ abrundet. (S. 155)
Mimesis figuriert hier als ein Prinzip, das nicht nur den Kunstprozess kennzeichnet, sondern allgemeine Voraussetzung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur meint. Metschers Kunsttheorie ist daher unverrückbar materialistisch basiert. Eine Orientierung, die ihn in dieser Neuauflage seines erstmals 2012 im Kulturmaschinenverlag erschienen Werkes zu einer wichtigen Ergänzung veranlasste: Er widmet sie der Auseinandersetzung mit Jörg Zimmers Problemgeschichte der ästhetischen Terminologie,[1] die er als in letzter Instanz idealistisch geprägt sieht. Der Autor will damit, wie er sagt, gegen eine Konjunktur der Re-Hegelianisierung marxistischen Denkens ankämpfen. (S.11) Das ist ein gewichtiges Vorhaben, dem gegenwärtig, wie ich meine, große Opportunität zukommt. Deshalb leistet Metscher mit diesem seinem Kunstbuch einen dringlich notwendigen Beitrag in der aktuellen Marxismus-Debatte. Das wird auch durch den Kernpunkt der Kritik an Zimmer sehr deutlich: Er reduziere Philosophie auf die Arbeit am Begriff und opfere dadurch den von Marx kreierten sinnlich-gegenständlichen Wirklichkeitsbezug.
Für Thomas Metscher ist Kunst und Ästhetik – im Gegensatz zu Jörg Zimmer – weit weg davon, auf eine abstrakte Fortentwicklung des Begriffs fokussiert zu sein. Kunst ist für ihn „eine gegenständliche Tätigkeit im Sinn der Feuerbach-Thesen, damit eine Form sui generis der sinnlich-menschlichen Praxis in produktiver wie konsumptiver Hinsicht; in einer Gestalt, die Wirklichkeit aufzunehmen und anschaulich zu reflektieren vermag“. (S. 118) Sie wurzelt daher in den materiellen Lebensverhältnissen und nicht „in den allgemeinen Entwicklungen des menschlichen Geistes“. (S.119) Kunst wird hier im Rahmen der „Bildungsgeschichte produktiver Organe des Gesellschaftsmenschen“, also vor allem instrumental, begriffen. Sie fungiert als Moment im (Re-)Produktionsprozess des Menschen, eingebettet in die Verhältnisse von Herrschaft und Eigentum. (S.147) Kunst muss daher unweigerlich im humanen Kontinuum von Unterdrückung und Befreiung verortet werden.
Geprägt ist die materielle Welt aber durch dialektische Verfasstheit, was auch auf die Kunst als ihrem adäquaten Ausdruck zutrifft. Metscher folgt in dieser Hinsicht Hegel. Er versteht sie als „die im Sinnlichen und Wirklichen realisierte Idee“. Demnach ist die Kunst Wirklichkeit der Form und der in ihr sich artikulierenden, vom Menschen geschaffenen Welt. Damit aber wird die Dialektik von Form und Inhalt als konstitutive Seinsbestimmung von Kunst gesetzt. (S. 202) Formales Machen bleibt also im Kunstprozess stets auf den zu gestaltenden Gegenstand verwiesen – und umgekehrt selbstverständlich!
Mit Goethe arbeitet Metscher schließlich positiv das für Marxisten tatsächlich Relevante an emanzipatorischer Kunst heraus: Die „Wirklichkeit in Bezug auf den Menschen“ darzustellen. Und: Das „Handeln zwischen Menschen“ als soziales „vom Ethos bestimmtes“ Geschehen in der ihm „eigens zukommenden Möglichkeit gut, schlecht oder durchschnittlich zu sein“ vorzuführen. Nicht das einzelne Werk, sondern Kunst als kommunikativer Prozess steht im Mittelpunkt der Analyse. Dabei geht es vor allem darum, „das, was als Wahrscheinliches oder Notwendiges möglich ist“ herauszuarbeiten. (S.30f) Gegenstand der Kunst ist demnach die Dialektik von objektiv und subjektiv, von strukturellem Rahmen und der Freiheit menschlichen Handelns. Darin besteht in erster Linie die eigenständige Erkenntnisleistung des künstlerischen Prozesses, hierzu wird das Instrument Kunst unhintergehbar benötigt.
Das bedeutet aber auch, dass gnoseologische Verfahren, die auf dieses Werkzeug verzichten, unvollständig bleiben. Denn: Die Künste treten „im vollem Umfang auch als Weisen des Weltentdeckens, der epistemischen Erschließung von Wirklichkeit an die Seite der Wissenschaften. Es gibt keinen Bereich menschlicher substantieller Welterfahrung, der nicht auch thematisch in den Umkreis der künstlerischen Aneignung träte.“ (S. 98) Metscher demonstriert das unter anderem auch am Beispiel von Peter Weiss. Der hat in seinem großen Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ eine Epoche mit einem philosophischen Tiefgang gezeichnet, der einer nüchtern-wissenschaftlichen Historiographie wohl nicht möglich gewesen wäre. (S.226-234) Hier sind also Philosophie und Kunst in einer Art verwoben, die Wissenschaft an gehaltvoller Präzision übertrifft. Will heißen: Die subjektive Seite der Wahrheit stellt im Medium Kunst die objektive in ihren Schatten – ohne zu übersehen, dass beide Seiten letztlich, ineinander verschränkt, die Totalität von Wahrheit ergeben.
Michael Wengraf
[1] Jörg Zimmer, Arbeit am Begriff. Grundprobleme der ästhetischen Terminologie, Bielefeld 2014.
Veröffentlicht: 25. Februar 2021